16.10.2015

Luftverunreinigung und Lärmimmissionen: Antrags- bzw. Klagebefugnis eines lärmbetroffenen Anwohners gegen eine Baugenehmigung (VG Aachen, Beschluss vom 28.11.2014, Az.: 3 L 224/13)

Leitsatz:

1. Die Antrags- bzw. Klagebefugnis eines lärmbetroffenen Anwohners gegen die Baugenehmigung für einen Lebensmittel-Discountmarkt kann daraus abgeleitet werden, dass die UVP-Vorprüfung fehlerhaft erfolgt ist (Abweichung von Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts).

2. Die gerichtliche Durchsetzung der wesentlichen Vorschriften über die UVP ist nach den Vorgaben der Aarhus-Konvention, des Unionsrechts und des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes in die Hand der Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit gelegt und daher als drittschützend zu behandeln.

3. Die Ausübung des Rechtsbehelfs nach § 4 Abs. 1 und 3 UmwRG durch den dazu Berechtigten ist jedenfalls im Ergebnis als Geltendmachung einer eigenen Rechtsverletzung im Sinne des § 42 Abs. 2 Halbs. 2 VwGO anzusehen.

4. Es spricht Überwiegendes dafür, den systemprägenden Begriff des subjektiv-öffentlichen Rechts im Bereich des Rechtsschutzes in Umweltangelegenheiten nicht aufzugeben, sondern zu erweitern.

Sachverhalt:

Mit ihrem Antrag begehrten die Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Anfechtungsklage gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zum Neubau eines Lebensmittel-Discountmarktes.

Vor der Erteilung einer solchen Baugenehmigung für ein großflächiges Einzelhandelsgeschäft mit über 1.200 m² Geschossfläche hatte die Antragsgegnerin den Verfahrensschritt der Vorprüfung im Einzelfall nach dem Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG) vorzunehmen. Unstreitig war die Baugenehmigung daher rechtswidrig erteilt worden, da diese Vorprüfung nicht entsprechend der Vorgaben der §§ 3c, 12 UVPG durchgeführt wurde. Die getroffene Feststellung, dass eine Umweltverträglichkeitsprüfung unterbleiben soll, war iSd. § 3a Abs. 4 UVPG als „nicht nachvollziehbar“ einzustufen.

Entscheidend ging es zwischen den Beteiligten noch um die Frage der Antrags- bzw. Klagebefugnis. Das Gericht hatte die Frage zu beantworten, ob die Antragsteller den Verstoß der Baugenehmigung gegen die §§ 3a und 12 UVPG als eine Verletzung „ihrer Rechte“ iSd. § 42 Abs. 2 VwGO geltend machen können.

Entscheidung:

Das VG Aachen hat diese Frage bejaht. Die Anwendbarkeit des Umweltrechtsbehelfsgesetzes auf Individualklagen setze eine mögliche Verletzung subjektiver Rechte voraus, vermittle darüber hinaus aber auch eine davon losgelöste Antrags- bzw. Klagebefugnis. Folglich sei die Ausübung des Rechtsbehelfs nach § 4 Abs. 1 und 3 UmwRG durch den dazu Berechtigten als Geltendmachung einer eigenen Rechtsverletzung iSd. § 42 Abs. 2 VwGO zu behandeln und begründe die Antrags- bzw. Klagebefugnis.

Der Regelungsgehalt des § 4 UmwRG sei nicht auf eine gegenüber § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO erweiterte Begründetheitsprüfung bei gegebener Zulässigkeit begrenzt. Sinn und Zweck des § 4 UmwRG sei es, einen weiten Zugang zu Gericht zu ermöglichen. Daher müsse diese Vorschrift eine eigenständige Antrags- bzw. Klagebefugnis begründen, was auch für die praktische Wirksamkeit eines solchen Rechtsbehelfs vor den deutschen Verwaltungsgerichten erforderlich sei.

Im Ergebnis müsse im deutschen Verwaltungsprozess ein subjektiv-öffentliches Recht hinzukommen, unabhängig davon, ob er bereits gesetzlich begründet sei oder im Wege richterlicher Rechtsfortbildung begründet werde oder erst aus dem „subjektiv-öffentlichen Rügerecht“ des § 4 UmwRG abgeleitet bzw. zur Vermeidung einer unionsrechtswidrigen Rechtsschutzverweigerung notfalls hinzugedacht werden müsse.

Fazit:

Mit dieser Entscheidung weicht das VG Aachen von der Rechtsprechung des BVerwG ab, welches den Regelungsgehalt des § 4 UmwRG bei Individualklägern auf eine gegenüber § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO erweiterte Begründetheitsprüfung bei bereits gegebener Zulässigkeit begrenzt sieht (BVerwG, Urteil vom 20.12.2011, Az.: 9 A 30/10; BVerwG, Beschluss vom 27.06.2013, Az.: 4 B 37/12). An der Entscheidung des VG Aachen sind daher Zweifel angebracht. Das BVerwG hat darauf hingewiesen, dass weder der Wortlaut des § 4 Abs. 3 UmwRG noch seine Stellung im Gesetz darauf hindeuten, dass sich Individualkläger auf Verfahrensfehler berufen können. Vielmehr sei der Rechtsschutz bei Individualklagen auf subjektive Rechte zugeschnitten.

Das unionsrechtliche Effektivitätsprinzip, auf welches das VG Aachen ausdrücklich abstellt, erfordert ebenso wenig wie das deutsche Recht eine Popular- oder Interessentenklage (so Link, jurisPR-UmwR 5/2015 Anm. 3, D.). Der EuGH habe erst in seiner sog. Trianel-Entscheidung vom 12.05.2011 (Az.: C-115/09) klargestellt, dass es Sache der Mitgliedstaaten sei, zu bestimmen, welches die Rechte sind, deren Verletzung zu einem Rechtsbehelf in Umweltangelegenheiten führen kann. Ihnen stehe es frei, diese Rechtspositionen auf subjektiv-öffentliche Rechte zu beschränken (Link, aaO).

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